Die Fragmente des Heraklit von Ephesos aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert gehören zu den frühesten schriftlichen Überlieferungen der griechischen Philosophie. In ihnen knüpft er an die milesischen Denker Thales, Anaximander und Anaximenes an, die schon vor ihm nach dem Urgrund der Dinge gefragt haben. Er setzt diese Tradition aber nicht unverändert fort, sondern beginnt etwas Neues. Denn in seinen rätselhaften Fragmenten, die ihm den Beinamen „der Dunkle“ eingebracht haben, fragt er nicht nur nach der Naturerfahrung. sondern auch nach dem Mittel, diese zu erschließen.
Das ist der Logos, der im Griechischen für die Ordnung wie auch die Sprache stehen kann. Dieser wird für ihn zum Problem, da ihm – am Beginn des philosophischen Denkens – nur die Sprache des Mythos und des epischen Sprechens zur Verfügung steht, um seine Gedanken auszudrücken. Er erweitert mit seinen Fragmenten durch Sprachspiele und verkürzte Redeweisen die Grenzen des Sagbaren, thematisiert aber auch den Logos selbst.
Die Sonderstellung Heraklits
Die Besinnung auf die Sprache hat Heraklit unter den Vorsokratikern eine Sonderstellung eingebracht, weshalb sich Philosophen verschiedener Zeiten immer wieder mit ihm beschäftigten. Hegel und Nietzsche sind zwei prominente Beispiele aus der Neuzeit. Für beide ist Heraklit ein wichtiger Bezugspunkt ihres Denkens. Hegel schreibt sogar, dass es keinen Satz Heraklits gebe, den er nicht in seine Philosophie aufgenommen habe. Er interpretiert Heraklit ausführlich in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Nietzsche in seinem Kolleg über die vorsokratischen Philosophen. Diese Texte sind von Interesse, weil sich in ihnen Grundlinien des Denkens Hegels und Nietzsches zeigen.
Hegels System im Wandel
Bei Hegel ist es die Veränderung seines Systems von der Jenaer bis in seine Berliner Zeit, die sich anhand seiner Heraklitinterpretation beschreiben lässt. Der Text der Vorlesung ist in sich widersprüchlich, weil Hegel Elemente seines frühen Denkens mit späteren Positionen vermischt. Die Widersprüche werden erklärbar, wenn man die verschiedenen Schichten des Textes freilegt und auf ihr ursprüngliches Konzept zurückbezieht. Damit wird zugleich die Veränderung von Hegels System nachvollziehbar, das sich von der Jenaer bis zur Berliner Zeit stark verändert hat.
Nietzsches heraklitische Kerngedanken
Der Text Nietzsches über die vorplatonischen Philosophen stammt aus dessen Zeit als Baseler Professor, ist also eine sehr frühe Schrift Nietzsches. Das Heraklitkapitel nimmt dort eine zentrale Position ein. Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass Nietzsche in Auseinandersetzung mit Heraklit einige seiner Kerngedanken entwickelt. So führt eine direkte Spur von hier über die Schrift „Die Geburt der Tragödie“ zur Position des Künstlerphilosophen, der Überwindung der Moral und der Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen.
Abhandlung in drei Teilen
Die gesamte Abhandlung besteht aus drei Teilen. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Sonderstellung der heraklitischen Philosophie, als dem Beginn einer Tradition des philosophischen Diskurses, die sich in ihrem Verlauf völlig von diesem Beginn abgewendet hat. Sie geht davon aus, dass in der Bewältigung des Phänomens des Werdens über den ‚Logos‘ eine ursprüngliche Erfahrung aufgehoben ist. Es gilt diese in der heraklitischen Philosophie aufgehobene Grunderfahrung vom Phänomen des Werdens wiederzugewinnen und auf den Zusammenhang mit der von Heraklit entdeckten Möglichkeit, über das Werden zu sprechen, zu befragen.
Der zweite Teil widmet sich Hegels Heraklit-Interpretation. Die ist eingebunden in Hegels Programm der Geschichte der Philosophie, das die geschichtliche Abfolge der Philosophien in Analogie zur Entwicklung der Idee in der Logik setzt. Hegel betrachtet von dort her die heraklitische Philosophie als Stufe des Werdens in der Abfolge der Bestimmungen der Idee. Hegel gelingt es jedoch nicht, die heraklitische Philosophie aus dieser Perspektive konsistent zu interpretieren. Die Widersprüche, in die Hegel sich verwickelt, lassen sich durch einen Rückgriff auf Hegels frühe Systementwürfe aus der Jenaer Zeit erklären.
Es bedarf daher eines zweiten, alternativen Interpretationsganges des Heraklitkapitels der Vorlesungen, der in Hegels Verständnis des Logos im dritten Teil seiner Heraklit Interpretation seinen Ansatzpunkt hat, um die Widersprüche des ersten Interpretationsganges auflösen. Vom Logos ausgehend wird sich der zunächst verdeckte Zusammenhang zwischen Feuer und Seele rekonstruieren lassen, den Hans-Georg Gadamer bei Hegel vermisst:
„Es muß uns heute verwundern, daß Hegels spekulatives Genie, das sich an Heraklit wahrlich in seiner ganzen Kraft des Wiedererkennens bewährt, gleichwohl an dem so offenkundig unangemessenen aristotelischen Schema der Naturphilosophie im Prinzip festgehalten hat und daß er die tiefsinnigsten Sentenzen Heraklits über Traum und Schlaf und Wachen, über Tod und eben, über Dunkel und Helle, nicht mit dem ewig flackernden Feuer Heraklits zusammengesehen hat.“
Dass Hegel diesen in der Frühzeit angelegten Zusammenhang nicht weiterverfolgt hat und stattdessen in seiner späteren Zeit Heraklit anders interpretiert und sich damit in Widersprüche verwickelt, liegt daran, so wird sich zeigen, dass Hegel sein Konzept der Dialektik und des Absoluten in einer Weise modifiziert, die es nicht mehr erlaubt, die Gegensatzstruktur der Zeit darzustellen.
Im Gegensatz dazu scheint Nietzsche genau bei der Darstellungsproblematik anzuknüpfen. Er versteht Heraklit als Protagonisten der Artisten-Metaphysik, die vor dem Hintergrund von einer Sprachtheorie, die die Sprache als künstlerisches Produkt des Menschen ansieht, die einzige Möglichkeit der Philosophie in der Kunst sieht. Nietzsche sieht in Heraklits Philosophie einen tragischen Mythos, der das Dasein des Menschen vor dem Hintergrund des ewigen Werdens auslegt. Diese Auslegung verweist in letzter Konsequenz auf Nietzsche Lehre von der ewigen Wiederkehr, deren Ursprünge, wie die der anderen Nietzscheschen Grundlehren in der Heraklit-Interpretation Nietzsches nachzuweisen sind.