Zu allem Handeln gehört Vergessen

„Zu allem Handeln gehört Vergessen“ (250) schreibt Friedrich Nietzsche in seiner zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, weil sonst die Vergangenheit das Leben erdrückt. Vergessen ist wichtig für das Handeln und – so kann man ergänzen – um Raum für die Zukunft zu lassen. Denn die Vergangenheit kann eine Last sein.

Vergessen

Nietzsche beschäftigt die Frage, inwieweit das Wissen um die Geschichte dem Leben dient oder es behindert. Er sah und beklagte, dass zu seiner Zeit kaum Raum für Neues war. Ein Übermaß an Geschichtsbewusstsein, so seine These, sei schädlich für das Leben und deshalb das Vergessen notwendig.

Die Forderung stellt er vor dem Hintergrund, dass in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Geschichtswissenschaft – als Folge der Hegelschen Philosophie – die dominierende Wissenschaft war und alles sich an ihr orientierte. Deshalb bediente man sich vielfach der alten Formen, was etwa in der Architektur zur Entwicklung von „Neo-Stilen“ führte, wie der Neoklassik oder Neorenaissance, die noch heute unsere Städte der Gründerzeit prägen. Nietzsche sah und beklagte, dass dies wenig Raum für Neues lasse.

Die Aktualität der Frage

Die Geschichtswissenschaft besitzt heute nicht mehr den Stellenwert, wie zur Zeit Nietzsches. Dennoch ist die von Nietzsche aufgeworfene Frage unverändert aktuell. Auch wir müssen uns immer wieder fragen, inwieweit wir uns beim Handeln an der Vergangenheit orientieren, an überkommenen Normen und Vorgaben. Auch persönlich stellt sich für uns immer wieder die Frage, was wir aufbewahren wollen oder wovon wir uns besser trennen wollen, weil es uns belastet als bereichert. Sich zu von der Vergangenheit und Dingen zu trennen,  kann uns Raum und Kraft geben, neue Ideen und Visionen zu entwickeln und zu verwirklichen, aber es ist nicht einfach loszulassen.

Die Überlegungen Nietzsche können deshalb auch für uns persönlich und die Kultur in Unternehmen hilfreich sein.

Historisch - Ueberhistorisch

Nietzsche geht das Thema systematisch an, indem er zunächst einen „ueberhistorischen“ und einen „historischen“ Umgang mit der Vergangenheit unterscheidet. In der Folge erläutert er diese beiden Weisen des Umgangs mit der Vergangenheit.

Der ueberhistorische Standpunkt

Der ueberhistorische Standpunkt löst einzelne Punkte aus der Vergangenheit und betrachtet sie unabhängig von ihrer Zeit. Charakteristisch für den ueberhistorischen Standpunkt ist dabei, dass diese Ereignisse aus der geschichtlichen Situation gelöst und als singuläre Ereignisse betrachtet werden. Sie werden etwa als große Leistungen des Menschen gewürdigt, ohne die geschichtlichen Umstände zu betrachten, die sie ermöglicht haben.

In diesem Sinne könnte man etwa Dantes Divina comedia, Goethes Faust und Thomas Manns Zauberberg als Ausdruck des literarischen Vermögens der Menschheit in eine Reihe stellen, wie auch die Eroberungen Alexander den Großen, die Reformation Martin Luther und die Reformen Napoleons als große Ereignisse der europäischen Geschichte.

Der historische Umgang mit der Geschichte

Im Gegensatz dazu betrachtet der historische Standpunkt die Geschichte als einen Prozess, in dem die Vergangenheit die Zukunft beeinflusst und jedes Ereignis in einen Kontext eingebunden ist. Er betrachtet die Vorläufer und Umstände, unter denen sich die jeweiligen Geschehnisse entwickelt haben, ohne Wertungen zu vollziehen. Für sie ist die Geschichte eine Entwicklung, aus der heraus man versuchen kann, die Gegenwart zu verstehen und Leitsätze für die zu Zukunft abzuleiten.  

Drei mögliche Verhaltensweisen zur Geschichte

Daraus ergeben sich drei mögliche Verhaltensweisen zur Vergangenheit, die jede ihre Vor- und Nachteile beinhaltet. In der Diktion Nietzsches sind dies „eine monumentalische, eine kritische und eine antiquarische Art der Historie“.

Die monumentalische Geschichte pflegt nur den ueberhistorischen Standpunkt, die antiquarische Geschichte verschreibt sich ganz der Historie, während die kritische Art die Vergangenheit und die Zukunft im Blick behält. Keine dieser drei Möglichkeiten ist grundsätzlich abzulehnen oder zu bevorzugen, weil jede ihrem Platz im Leben besitzt.

Die antiquarische Geschichte

Der Antiquar hebt die Errungenschaften der Vergangenheit und dokumentiert sie in Büchern, Bibliotheken und Archiven, weil er die Leistungen der Väter und Urväter schätzt. Sie sollen in möglichst großen Umfang erhalten werden. Sein Interesse gilt daher zunächst nur der Vergangenheit. In seinem Bewahren spielt die Zukunft allenfalls insofern eine Rolle, als er das gesamte Material aufbewahrt, damit es für zukünftige Aufarbeitung zur Verfügung bleibt. Weil aber unklar ist, was in der Zukunft gebraucht werden wird, muss möglichst alles konserviert und erhalten werden. Alles kann wichtig sein.

Dabei steht der antiquarische Umgang mit der Vergangenheit aber stets in der Gefahr, einem Relativismus zu verfallen. Denn wenn alles grundsätzlich wertvoll ist, gibt es auch keine Wertungen mehr. Unter diesem Aspekt kann man alles als gleich wertvoll wie auch gleich wertlos betrachten. Die Bedeutung des Einzelnen schwindet im Meer der Vergangenheit.

Die kritische Geschichte

Der Kritiker der Geschichte bezieht sich wie der Antiquar auf die Vergangenheit, betrachtet sie aber bewusst aus seinem gegenwärtigen Standpunkt und bewertet die Leistungen der Vergangenheit. Gerecht möchte er gegenüber der Geschichte sein. Oftmals übersieht er aber. dass er dabei immer auch in seinem Horizont gefangen bleibt. Eine gerechte Betrachtung der Geschichte ist kaum möglich.

Der Kritikermöchte sich von der Vergangenheit verabschieden, mit der er nicht übereinstimmt und aus der Geschichte für die Zukunft lernen. Durch seine kritische Umdeutung der Vergangenheit versucht er sich eine neue Geschichte geben. Ein Zuviel des kritischen Geschichtsbewusstseins kann aber leicht in den Zynismus führen. Denn wenn in der kritischen Beschäftigung die Umdeutung scheitert und dass Negative überwiegt, kann die Bürde der Vergangenheit das Handeln lähmen.

Die monumentalische Geschichte

Die monumentalische Geschichte sieht nur die großen Leistungen, ohne die Umstände zu würdigen. Sie betrachtet die Höhepunkte der Geschichte. Das sind für sie Beweise dafür, was alles möglich ist, wenn Menschen das Heft des Handelns in die Hand nehmen. Da sie diese nicht kritisch würdigt, sieht sie nicht, dass in diesen Handlungen auch immer ein Maß an Ungerechtigkeit und sie – wie Nietzsche  es ausdrückt – eine Art „Wahn“ zur Voraussetzung haben. So konnte Luther mit seinen Thesen zwar Missstände in der Kirche aufdecken. Die Auswirkungen der Reformation trafen dann aber auch diejenigen, die an den Missständen nicht beteiligt waren.

Sie sehen nur die Kraft zur Vision und Veränderung. Wer Großes schaffen will, fühlt sich davon angezogen, steht aber immer in der Gefahr, sich selbst zu überhöhen und im schlimmsten Fall seinen Machtgelüsten zu erliegen.

Organisationskultur und Vergangenheit

Wenn wir die Organisationskultur der Unternehmen heutzutage betrachten, sollten wir uns fragen, welcher Umgang mit der Vergangenheit überwiegt. Oft finden wir leider zu viele Antiquare und Kritiker. Natürlich ist es wichtig die Traditionen und Werte eines Unternehmens zu pflegen. Auch genormte Abläufe sind wichtig und – wie man an Umsatzzahlen sieht – ein Erfolgsmodell. Das gibt dem Einzelnen auch Orientierung und Sicherheit für das Tun. Andererseits führt das auch zur Abgabe von Verantwortung und zum Verlust der Eigeninitiative. Unter der großen Zahl der Mitarbeiter die innerlich bereits gekündigt haben und Dienst nach Vorschrift machen, befinden sich viele kritische Geister, die sich in den Zynismus geflüchtet haben.

Raum und Kraft zur Vision

Deshalb darf man den Raum zur Vision nicht verstellen, weil man sonst im Bewahren und Kritisieren steckenbleibt. Den Raum dafür schafft das Vergessen. Vielleicht müssen wir über eine „Vergessenskultur“ nachdenken, die es erlaubt, Vorgaben und Normen zu vergessen, damit diese nicht zunehmend das Handeln erschweren.

Man sollte öfter den unhistorischen Blick auf die Firmengeschichte und darüber hinaus wagen. Das eröffnet den Blick darauf, was in der Vergangenheit möglich war und wieder möglich sein wird. Diese Sicht auf die Vergangenheit ist leider oft unterrepräsentiert, da sie dazu führt, die sicheren schon begangenen Pfade zu verlassen und Risiken einzugehen. Der Visionär macht sich leider angreifbar, weil er in eine ungewisse Zukunft schaut. Aber ist Risiko nicht die Basis allen wirtschaftlichen Handelns?

Mut zur Ungerechtigkeit

Dazu bedarf es des Mutes und der Kraft ungerecht zu handeln gegenüber der Vergangenheit um Neues zu schaffen. Das lehrt uns die monumentalische Geschichte. Wenn etwa Luther gegenüber allen Kirchendienern seiner Zeit gerecht hätte handeln wollen, hätte er nie seine Thesen veröffentlichen dürfen. Er musste, um Veränderungen herbeizuführen, denen gegenüber ungerecht handeln, denen er viel zu verdanken. 

Ungerechtigkeit ist nötig, wenn wir Neues schaffen wollen. Das gilt für die persönliche Situation wir für Unternehmen: sich von etwas zu trennen, führt immer auch einen Verlust an Werten mit sich, Werte die jemand geschaffen hat. Diesen Werte zu vernichten, ist immer auch ungerecht gegenüber der Vergangenheit.  Jeder muss für sich abwägen, wie weit dieser Verlust durch die Zukunft gedeckt ist.

Lesen Sie hier, inwiefern Heraklit für die Kerngedanken firedrich Nietzsches wichtig ist.

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