Furcht vor der Freiheit

Im Jahre 1941 veröffentlichte der Psychoanalytiker Erich Fromm sein in Englisch geschriebenes Buch Escape from Freedom (dt. Die Furcht vor der Freiheit). In Frankfurt geboren, war Fromm schon 1933 emigriert und inzwischen amerikanischer Staatsbürger geworden. Aus der Ferne fragte er sich, wie es sein könne, dass die Nationalsozialisten in Deutschland so schnell die gesamte Macht an sich reißen konnten. In seinem Buch analysiert er aus der Perspektive des Psychologen, welche Faktoren im Charakter der Menschen dazu führen können, dass sie ihre Freiheit aufgeben und sich freiwillig bedingungslos einer Macht wie dem Faschismus unterwerfen.

Fromms Geschichtsoptimismus

Diese Frage musste Fromm besonders umtreiben, da er eigentlich ein Geschichtsoptimist war. Eine seiner Grundannahmen ist, dass die Geschichte der Menschheit eine Geschichte der wachsenden Freiheit ist. Das beginnt mit der zunehmenden Beherrschung der Natur, die es erlaubt, Bedürfnisse über das Lebensnotwendige hinaus zu entwickeln. Es setzt sich fort in der persönlichen Entwicklung, wenn mit beginnender Adoleszenz das Individuum sich von seiner Ursprungsfamilie emanzipiert und seine eigenen Wege geht. Für die Menschheit sieht er insbesondere in der geschichtlichen Entwicklung seit dem Mittelalter eine Ausweitung der Freiheit des Individuums gegenüber den Beschränkungen durch die Gesellschaft.

Kampf um die Freiheit

Zwar sieht er, dass der Kampf um die Freiheit, immer wieder aufs Neue geführt werden muss, weil jeder die errungenen Privilegien verteidigen und seine Position behaupten möchte. Das kann zu Unterdrückung und Einschränkungen der Freiheit führen. Die größte Gefahr sieht Fromm allerdings, und hier ist er ganz Psychoanalytiker, in charakterlichen Dispositionen, die die Freiheit und die Demokratie gefährden. Diese entwickeln und verstärken sich im Laufe der Geschichte, insbesondere seit dem ausgehenden Mittelalter, von dem aus er einen Bogen bis in die Moderne spannt.

Fromm Furch vor der Freiheit

Psychologische Grundannahmen

Mit seiner Annahme, dass der Charakter sich im Laufe der Geschichte wandelt, setzt er sich in  Gegensatz zum Urvater der Psychoanalyse Sigmund Freud. Dieser geht davon aus, dass der Mensch nur durch seine Triebe bestimmt ist, deren Struktur sich nicht ändert. Im Gegensatz zu Freud sieht Fromm das Grundproblem der Psychologie nicht in der Beherrschung der Triebe, sondern in der Bezogenheit des Menschen auf die Welt, weshalb er sich als Sozialpsychologe bezeichnet.

Diese Beziehung des Menschen zur Welt ist gesellschaftlichen, ökonomischen und kulturellen Einflüssen unterworfen, die sich in Charakterzügen manifestieren. Im Laufe der Geschichte wandelt sich der Charakter unter diesen Einflüssen. Fromm analysiert diese Entwicklung des Charakters aus der Sicht des Psychoanalytikers. So deckt er psychische Strukturen und Handlungsmotive auf und entlarvt Rationalisierungen, also Gedankengebilde, mit denen Individuen ihr bewusstes Handeln erklären, die aber in Wirklichkeit ihre eigentlichen, unbewussten Motive verdecken.

Die Emanzipation des Individuums

Die wichtigsten Weichenstellungen für die Emanzipation des Individuums verortet Fromm im späten Mittelalter und dem Zeitalter der Reformation. Er nennt zunächst das Aufbrechen der straffen ständischen Gliederung in der mittelalterlichen Gesellschaft, das die Gestaltungsfreiheit des Individuums etwa in Hinblick auf die Berufswahl stark ausgeweitet hat. Dadurch entsteht ein städtisches Bürgertum, das in der Folge zum Motor der Veränderungen wird.

Mit dem Entdecken des Individuums als Faktor tritt die christliche Heilserwartung in den Hintergrund, stattdessen wird persönlicher und wirtschaftlicher Erfolg wichtig und das Streben danach zu einem Lebensziel. Arbeit dient nicht mehr nur dem Lebensunterhalt, sondern wird zum Selbstzweck. Der Mensch wird aus freier Entscheidung zum Arbeitstier.

Die Reformation greift diese schon vorhandenen Tendenzen auf und verstärkt sie ihrerseits nochmal. Das gilt etwa in Hinblick auf die Emanzipation des Individuums gegenüber der Kirche. Der Einzelne steht nun unmittelbar zu Gott und braucht die Institution Kirche nicht mehr. In der Calvinistischen Variante des Protestantismus wird zudem der wirtschaftliche Erfolg zum Zeichen, von Gott privilegiert zu sein. Das alles schafft die Grundlage für den Kapitalismus, der wiederum seinerseits die Tendenzen weiter verstärkt.

Der Preis der Freiheit

Die Zunahme der Freiheit hat für das Individuum aber auch seinen Preis. Fromm verweist darauf, dass Adam und Eva schon für den ersten Akt der Freiheit mit der Vertreibung aus dem Paradies bezahlten, die Kummer, Schweiß und Leid über sie brachte (1.Mose 3). Grundsätzlich geht die Stärkung des Individuums immer mit der Auflösung primärer und Schwächung weiterer Sozialbeziehungen  einher, was die Gefahr der Vereinsamung mit sich bringt. Die Ausweitung der persönlichen Entfaltungsmöglichketen führt zudem zum Verlust der Sicherheit, die man in einer stark reglementierten Struktur hat. Es kommt jetzt darauf an, dass man sich als tüchtig erweist und für sich die richtigen Entscheidungen trifft. Wirtschaftlicher Erfolg ist nicht mehr nur möglich, sondern notwendig. Der Markttag wird, wie Fromm schreibt, zum jüngsten Gericht, der über Erfolg oder Misserfolg entscheidet.

Deshalb ist Freiheit nicht nur ein Geschenk, sondern kann als Last empfunden werden. Im Bürgertum zur Zeit der Reformation hat man daher die Freiheit und Unabhängigkeit nicht nur als Chance begrüßt, sondern stets auch die eigene Angst und Ohnmacht gespürt, die damit einhergeht. Insbesondere fürchtete das Bürgertum auch um den Verlust seiner Stellung in der Gesellschaft, die es etwa vor den Bauern privilegierte.

Die Reformation als Verstärker

All das findet, wie Fromm darlegt, Ausdruck in den Lehren der Reformation und wird durch sie noch verstärkt. Die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber dem abstrakten Markt spiegelt sich wider in der von Luther gefühlten Ohnmacht des sündigen Menschen gegenüber Gott. Konnte der Gläubige nach katholischer Lehre durch gute Taten sein Seelenheil fördern, ist er nun passiv der Gnade Jesu ausgeliefert und kann sich Gott nur völlig unterwerfen. Fromm sieht hierin den Ursprung der Bereitschaft, sich totalitären Mächten zu unterwerfen. Gleichzeitig setzt Luther, der selbst dem Bürgertum entstammte, seinen Widerstand gegen die Kirche nicht gegen jegliche Autorität fort. Denn einen Systemumsturz fürchtet er wie das gesamt städtische Bürgertum. Daher schlägt er sich in den Bauernkriegen auf die Seite der Fürsten und rechtfertigt deren brutale Niederschlagung des Bauernaufstandes.

Ambivalenz im Verhältnis zur Freiheit

Das Verhältnis zur Freiheit ist also von Anfang an ambivalent. Einerseits werden die Möglichkeiten, die sie bietet, gerne in Anspruch genommen, gleichzeitig flüchtet die Schwierigkeiten und Gefahren, denen sie uns ausliefert. Deshalb finden sich auch immer Tendenzen, der Furcht vor der Freiheit nachzugeben.

Es lassen sich wiederkehrende Muster erkennen, die Freiheit aufzugeben. Fromm erkennt drei Fluchtmechanismen gegenüber der Freiheit. Diese sind zum Teil schon dort angelegt, wo die Weichen für die moderne Freiheit gestellt werden und setzen sich verstärkt bis in die Moderne fort Ich werde die drei Fluchtmechanismen kurz darstellen..

Flucht ins Destruktive

Ein Fluchtmechanismus gegenüber der Freiheit ist destruktives Verhalten. Wer die Freiheit nicht gestalten kann, fühlt nur Ohnmacht und diese äußert sich in Zerstörung.  Lebenstrieb und Destruktionstrieb stehen laut Fromm in einem Wechselverhältnis. Dabei kann sich die Zerstörungswut sowohl nach außen richten wie auf sich selbst.

Fromm Furch vor der Freiheit

Flucht ins Konformistische

Eine weitere Möglichkeit ist es, sein Selbst aufzugeben und sich gänzlich den Anforderungen anzupassen, die die Gesellschaft stellt. Das führt zum Verlust eines wirklichen Selbst. Alles Denken und Handeln entspringen nicht mehr einen eigenen Impuls, sondern sind darauf ausgerichtet, Gefallen in der Gesellschaft zu erregen. Es scheint, als sei dieses Problem heute noch viel stärker ausgeprägt als zur Zeit Fromms. Denn wie viele Menschen machen sich abhängig von der Zahl der Likes, die sie für ihre Bilder und Posts bekommen. Jeder muss sich selbst fragen, inwieweit er damit nur eine gesellschaftliche Anforderung erfüllt oder sein spontanes Ich lebt.

Flucht ins Autoritäre

Während die ersten beiden Fluchtmechanismen gegenüber der Freiheit im Wesentlichen nur das Individuum selbst schwächen, sieht Fromm in der Flucht ins Autoritäre eine Tendenz, die gesellschaftliche Auswirkungen haben kann. Denn der autoritäre Charakter ist bereit symbiotische Beziehungen einzugehen, in denen er sich anderen bedingungslos unterwirft oder sich andere im Dienste einer höheren macht unterwirft. Er führt eine sadomasochistische Beziehung, in der er entweder bereit ist Leiden auf sich zu nehmen oder andere leiden zu lassen. Beides Seiten gehören zusammen, denn das leidende Subjekt ist genauso abhängig vom Sadisten, wie umgekehrt. Es ist ein Charakterzug, den er bereits bei Luther diagnostiziert. Seine bedingungslose Unterwerfung gegenüber Gott sieht Fromm aus einem Selbsthass geboren. Weil er sich selbst als schlecht und ohnmächtig empfindet, unterwirft sich Gott bedingungslos.

Der autoritäre Charakter zieht aus der Macht, der er sich unterwirft, seine Kraft und ist bereit sich jederzeit dafür aufzuopfern. Im Grund ist fühlt er sich auserwählt, weil er zu den Mächtigen dazugehört. Wenn er auch äußerlich gegen Autoritäten rebelliert, so Fromm, bleibt das im Trotz stecken und es geht ihm in Wahrheit um die Behauptung seiner Position in der Gesellschaft. Deshalb ist er auch bereit, seinerseits Macht gegen andere auszuüben, die nicht dazugehören, also nicht Teil der auserwählten Gruppe sind. Eine krude Mischung von Herrschaftsdenken und Minderwertigkeitsgefühl, die Fromm am Beispiel Hitlers und Göbbels – beides autoritäre Charaktere – eindrucksvoll darstellt.

Positive Gestaltung der Freiheit

Gegen diese Furcht vor der Freiheit setzt Fromm den „Glauben an das Leben und an die Freiheit als der aktiven und spontanen Verwirklichung des individuellen Selbst.“ (199) Die Liebe und die kreative  Arbeit ermöglichen es dem Individuum die Freiheit positiv zu gestalten. Fromm führt das in diesem Buch nicht detailliert aus, hat dies aber in anderen Büchern ausgearbeitet. Hier sei insbesondere auf sein Buch „Die Kunst des Liebens“ hingewiesen.

Zur Aktualität von Fromms Analyse

Die Stärke des Buches Die Furcht vor der Freiheit liegt in der Analyse der Charakterstrukturen die totalitäre Regime ermöglichen.  Sie spannt einen langen geschichtlichen Bogen und deckt charakterliche Dispositionen auf, die heute noch relevant sind. Wenn man sich auch vor allzu schnellen Aktualisierungen einer Diagnose, die bereits mehr als 80 Jahre alt ist, hüten sollte, kann sie wichtige Denkanstöße liefern, warum auch heute noch Menschen ihre Freiheit aufgeben und sich in den Dienst von Machthabern mit kruden Ideologien stellen. Zudem erlaubt es sich selbst zu hinterfragen, inwieweit man sich der Freiheit stellt oder selbst die naheliegenden Fluchtmuster ergreift.

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